Die Farben der Zeit

Das kleine Mädchen sitzt am Tisch und malt mit Wasserfarben.
Ein Herbstbild hat sie sich vorgenommen und hat mit roten Wangen, sehr konzentriert und sehr sorgfältig mit einem Bleistift die Form verschiedener Blätter auf ein großes Papier gezeichnet. Ich erkenne ein Ahornblatt, eine Eiche und in der Mitte, raumfordernd, die fünf Finger eines Kastanienblattes.

Jetzt hat sie sich auf den Stuhl gekniet um ihr Werk mehr im Blick zu haben und mischt die Farben des Tuschkastens. Das Ahornblatt bekommt ein kräftiges, feuriges Rot in die Mitte, das Kastanienblatt einen krakeligen braunen Rand. In das feuchte Rot wird ein dicker Tropfen sonniges Gelb gekleckst und ein paar Sprenkel Grün und Orange beleben das Braun. Faziniert beobachtet das Kind wie die Farben auf dem Papier ineinanderlaufen, sich zu einer neuen Farbe zusammenmischen, Muster bilden.

„Warum werden die Blätter eigentlich bunt im Herbst ?“ fragt die Fünfjährige. Ich erkläre ihr, dass sich das Chlorophyll zersetzt und die roten und gelben Blattfarbstoffe übrig bleiben. „Hmmh, sind die denn auch die ganze Zeit da?“ fragt sie noch mal nach und ich nicke. „Und warum geht das Grün weg ?“ hakt sie nach und pinselt einen dicken Klecks Ocker auf das Eichenblatt. „Weil seine Zeit um ist ! “ sage ich,“ im Herbst ist die Zeit für Rot und Gelb und Braun. Grün ist die Farbe für Frühling und Sommer.“ Das Kind malt weiter, versonnen und nachdenklich blickt sie auf ihr Werk, lässt die Farben ineinanderlaufen. Ich wende mich meinem Buch zu, draussen vor dem Fenster dunkelt es und erste, feine, graue Dunstnebel heben sich in den herbstlichen Spätnachmittag. Es ist sehr still im Zimmer ich höre die Wanduhr ticken und das leise Wischen des Pinsels auf dem Malpapier.
„Mama?- Hat Zeit eigentlich eine Farbe?“ Ich bin sprachlos. “ Nein, sage ich dann, da die Uhrzeit eigentlich nur eine Erfindung der Menschen ist und real gar nicht existiert, hat sie wohl keine Farbe.“ „Und warum ist dann der Oktober Golden und der Mai Grün? Monate sind doch Zeit-oder?“ „Mhm, die Monate sind eine Zeiteinheit, aber die Farben bekommen sie nach der Natur , nach den Jahreszeiten. Im Herbst färbt sich das Laub, im Mai werden die Bäume Grün, da hat man die Ereignisse in der Natur auf den Zeitraum übertragen“ Ich hoffe das Kind ist nun mit der Antwort zufrieden. Irgendwie nimmt das Gespräch eine Wendung, die mir unangenehm wird. „Und warum sagst du dann, du liebst die blaue Stunde? Warum gehst du auf den bunten Abend und Mama, — warum haben Menschen dunkle, ja schwarze Minuten, Stunden und Tage? “
„Ja, ich glaube du hast recht du Naseweis,“ sage ich versonnen. Vielleicht hat Zeit doch eine, nein besser, viele Farben. Tönungen , die wir vergeben, je nachdem, wie wir uns fühlen. Der Sommertag, der für den einen blütenbunt und sonnengelb ist, scheint für den anderen gewitterdunkel und regengrau.“ „Ja, so ist das wohl „meint meine Tochter und setzt einen letzten Klecks Orange in ihr Herbstblätterbild. „Mhmm, was für eine Farbe hatte denn heute Nachmittag für dich? „frage ich sie lächelnd. Stumm deutet sie auf das Papier mit dem Herbstblättergemälde, „wenn ich noch was von deinem Glitzernagellack haben könnte, von dem goldenen , dann hätte es fast die Farbe von heute Nachmittag,“sagt sie grinsend.

Ich hole ihr den Nagelack und sie pinselt an einigen wenigen Stellen den goldenen Glitter auf das Bild „jetzt brauch ich nur noch etwas von deinem Parfüm, Mama , dann riecht es auch noch wie unserer Nachmittag heute. “ Ich nehme mein Kind gerührt in den Arm und denke, während sie sich an mich schmiegt, das ich diesen funkelnden, rotgoldenen Herbstnachmittag eh nicht vergessen werde und das dieser Moment für mich, auf immer und ewig, den sanften Goldton ihrer Haare haben wird.

Zeit, das hab ich damals gelernt, hat unendlich viele Farben und manchmal hat man das Glück, das die Erinnerung an den Zauber eines schillernden Augenblicks das Grau eines traurigen Tages erhellt.

© Anne Varnhorn

Zeit- Fragen

 

zeitgeist 
Photoshop-Grafik basierend auf einem Ölbild von Siegfried Zademack

Wohin geht meine Zeit?

Ich hab sie mal wieder verschwendet!
Hätte jemand anders sie besser genutzt?
Sie zum Geschichte machen verwendet?
Vielleicht ganz gründlich die Wohnung geputzt?

Wann kommt meine Zeit?  


© für Text und Bild Anne Varnhorn

Jetzt aber…

(ganz besonders für Geli)

Wer nicht von Zeit zu Zeit in sich geht, trifft dort irgendwann niemanden mehr an.“
(unbekannt)

Also hab ich die Zeit genutzt und bin fast eine Woche in mich gegangen.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich die größte Mühe wieder aus mir raus zu kommen, und diesen glücklichen Umstand, der endlich wieder zu einem Eintrag in diesem Blog führte, dankt ihr bitte Geli, die was über die Zeit lesen wollte.

Es hat mir gut gefallen in meiner Gesellschaft: Keiner, der mir Widerworte gibt, keiner, der mit mir streitet, ich kann herumgraben in den Tiefen meiner Zeit, und nur meine Sicht der Dinge ist die richtige Ansicht.
Aber, ach, zwei Seelen streiten da plötzlich in meiner Brust.
Die eine sagt: „Mach es dir gemütlich, richte dich ein, akzeptiere endlich deine Einsamkeit, hier tut dir keiner weh und keiner gut, hier nehmen wir dich auch in der bequemen Jogginghose und im ausgeleierten T-Shirt, du brauchst dich nicht zu schminken und keine Rolle zu spielen, du darfst sein wer und was du willst. Sei eine Couchpotaoe und freu dich eine zu sein!“

Die andere Stimme ist „lenorgewissenleise“, aber eindringlich und störend:
„Das Leben findet draussen statt!“ stellt sie kategorisch fest, „vor deiner Tür, vor der Haustür, nur einige Schritte weit weg, hörst du nicht wie es nach dir ruft?
Steh auf und geh mal raus, beweg dich, mach was, lüfte mal dein Gehirn und deinen Körper aus, raff dich zusammen, zieh dich ordentlich an, komm mal raus aus dir, geh mal auf jemanden zu…Willst du denn dein Leben auf der Couch verbringen ???.“

Ich lege mein Strickzeug aus der Hand und schaue sinnend in den grauen, kalten Wintertag vor meinem Fenster. Ja, ich möchte gern auf meinem Sofa sitzen bleiben. Nicht, das die Aussicht auf Gesellschaft nicht verlockend wäre, aber so richtig Lust auf Aktion habe ich einfach nicht. Auch möchte ich meinen bequemenen Sofaplatz nicht verlieren. Und ihn mit jemanden teilen? Nein, im Moment auch nicht, die gemütlichste Ecke will ich nicht an jemanden abtreten.

„Aber du verlierst kostbare Lebenszeit!“ flüstert mein Lenorgewissen eindringlich, und ich nehme schnell das Strickzeug wieder in die Hand, weil, dann tue ich wenigstens noch was halbwegs Sinnvolles.
„Ausrede, Ausrede“, flüstert die frustige Stimme und ich lasse verschreckt ein paar Maschen fallen. „Jeder dieser Augenblicke ist unwiderbringlich weg, du kannst ihn nicht zurückholen, mach doch wenigstens was Sinnvolles in der Zeit und hör endlich auf zu stricken!
Du könntest mal wieder was malen, hast du lange nicht mehr, und in diesem unnützen Blog hast du auch lange nix geschrieben…! “ ,der Vorwurf in der Stimme des Lenorgewissens ist unüberhörbar.
Ich versuche was zu lesen. meine Katze drängelt sich auf meinen Schoss, rollt sich halb auf dem Buch liegend zusammen und ich entdecke, rechts neben ihrer Pfote folgenden Spruch auf den Seiten des Aphorismenbuches:

Da Zeit das kostbarste,
weil unwiederbringlichste Gut ist, über das wir verfügen,
beunruhigt uns bei jedem Rückblick
der Gedanke etwa verlorener Zeit.
Verloren wäre die Zeit,
in der wir nicht als Menschen gelebt,
Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten.
Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), deutscher evangelischer Geistlicher und Widerstandskämpfer im Dritten Reich, 1945 hingerichtet

Ich muss lächeln, über die Katze, die mich mit klugen Augen ansieht, und die jetzt an der Decke zerrt, weil sie darunter will und ich nicht so eine Unruhe machen soll, über mein flüsterndes Lenorgewissen, über die Welt und die Zeit und über mich.
Nein, ich habe keine Zeit verloren, ich hab Zeit gefunden! Das erkenne ich ganz unvermutet und freue mich über dieses Geschenk.
Und dann geschieht etwas unglaubliches:
Das schlechte Gewissen zieht sich plötzlich murrend in eine dunkle Ecke meiner Seele zurück, keine Stimme mehr, die mich in die Opposition zwingt, ich tue was ich will, mach mir einen Kaffee, wärme mir mein Kirschkernkissen und leg es mir auf die kalten Schultern.
Ich krame eine neue Leinwand raus und grundiere sie, ich weiß nicht wann und ob ich sie bemalen werde, aber wenn, dann wird sie bereit sein.
Ich dusche mit duftendem Schaum und sehr heiß, ich schlüpfe in die gemütliche Jogginghose und den Schlabberpulli, flätze mich auf mein Sofa, stricke und schlürfe heißen Kaffee. Und ich schaue grauenhafte Sendungen im Fernsehen, die, ich gestehe es reumütig, meine Gemütlichkeit nur noch steigern.
Ich telefoniere stundenlang mit Geli und ich hab Lust was in meinem Blog zu schreiben. Einfach nur so, JETZT !

Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist aufzuwachen und zu leben – diese Zeit ist jetzt.
Buddha (560 – 480 v. Chr.), auch: Siddhartha Gautama, Religionsstifter

In diesem Sinne habt eine schöne Zeit, HEUTE und JETZT und morgen?… Schaun wir mal…! Anne