Verlorene Lieben

Mein Opa war Milchmann.

Jeden Morgen, Winter wie Sommer, außer sonntags, stand er um 3 Uhr in der Frühe auf und brühte einen wundervoll duftenden Kaffee, von dem er die erste Tasse meiner Oma ans Bett brachte. Dann fütterte er das Pferd, das immer „de Fuchs“ hieß, wusch und rasierte sich, rauchte eine Junozigarette zum Kaffee und spannte an, um mit dem großen Tankwagen die Milch von der Molkerei zu holen.

Gegen 5 Uhr war er wieder da, brachte warme Brötchen vom Bäcker mit, hielt Frühstück mit meiner Oma, zog sich seine Lederjacke an und dann ging’s auf „Tour“, wie mein Opa das nannte. Mit dem Milchwagen brachten „de Fuchs“ und er die frische Milch von Haus zu Haus. Durch die ganze Stadt ging die Fahrt und es dauerte bis in den frühen Nachmittag um Milch, Sahne, Buttermilch, Butter und Käse an die Hausfrau zu bringen.

Er kannte jedes Haus in der kleinen Stadt, und jeder kannte ihn. Ich bin als Kind oft mitgefahren und es war jedes Mal ein Abenteuer. Er war freundlich und beliebt, um seine Augen gab es tausend Lachfältchen und es blitzte schelmisch darin, wenn meine Oma ihn fragte, wen er denn heute alles getroffen habe, auf seiner Tour.
Dann zwinkerte er mir zu und sagte: „Nur schöne Frauen, Mia, aber keine war so schön wie du!“ Nach dem Mittagessen wurde der Tankwagen ausgewaschen, das Pferd gefüttert und getränkt, sein Stall ausgemistet, der Garten bestellt.

Ich habe meinen Opa selten ärgerlich oder wütend gesehen.

Ende der 60er Jahre wollte man ihm ein modernes Milchauto geben. Mein Opa hatte natürlich einen Führerschein und er fuhr schon lange sonntags mit dem Motorrad und einem Beiwagen. Er hat das feine Auto abgelehnt, obwohl es sicher komfortabler gewesen wäre, besonders im Herbst und im Winter. „Lasst mir doch mein Fuhrwerk und „de Fuchs““, hat er zum Mann von der Molkerei gesagt, „ich liebe es!“. Er hat die Milch bis zu seiner Berentung in den Siebzigern mit Pferd und Wagen an die Frau gebracht. Sein Pferd hatte er noch lange danach.
„30 Jahre Milch von Clemens V.“ titelte die Lokalzeitung damals bei seinem Abschied und die ganze Familie amüsierte sich über die Stilblüte.

Seine Beerdigung war eine der größten Beerdigungen, die ich je mitmachte. Der Friedhof war voller Menschen, viele hatten Tränen in den Augen. „Er seine Familie, das Leben und seine Arbeit“, sagte der Propst, und viele der Anwesenden nickten beifällig.

Mein Opa hat zwei Weltkriege überlebt, er war in russischer Kriegsgefangenschaft, er hatte einen Orden,(wir fanden ihn in der Nachttischschublade nach seinem Tod), weil er irgendwo irgendjemand das Leben gerettet hat. Er wollte mal Schauspieler werden, als er jung war. Er hatte drei Söhne und sieben Enkelkinder. Er hatte harte Hände voller Schwielen und lachte gern. Sonntags ging er in die Kirche und danach zum Frühschoppen. Er hörte gern Radio und konnte jeden Schlager mitsingen. Manchmal hat er nachts schwer geträumt und um sich geschlagen. Er hat 30 Jahre lang Milch ausgefahren. „Ich liebe es, so wie es! „ hat er gesagt, als man ihm seine Arbeit leichter machen wollte.

Daran musste ich heute denken, als ich die Milchtüten in meinen Einkaufskorb legte und in einer Schlange missgelaunter Menschen an der Kasse anstand.

Ich dachte daran, als die Kassiererin die Milchtüten über den Scanner zog und mit einem angestrengten Lächeln 10,24 € für meinen Einkauf forderte.

Ich habe gestern daran gedacht, als ich einen Fernsehbericht über Kinder sah, für die ihre Lehrer ein Frühstücksbrot machen und die zur Löwenstube zum Essen geschickt werden, weil ihre arbeitslosen Eltern es angeblich nicht schaffen, ihren Kindern was zum Essen zu machen. Angeblich aus finanzieller Not und weil sie keine Zeit haben.

Ich dachte es, als ich die Supermarktblumen sah, lieblos geerntet und ebenso lieblos in Plastik verpackt, im Eimer an der Kasse.

Ich dachte es, als ich im Fast-Food-Restaurant, die abgefressenen Tabletts sah, zwischen Essenresten und Papierservietten, zum inflationären Slogan verkommen, leuchtet mir ein Spruch von einem Pappbecher entgegen. In 10 Sprachen haben die cleveren Werbemenschen da auf die Verpackungen aufgedruckt, was jeder gern sagen möchte und was so vielen Menschen heute fehlt: diesen einen Satz, der alles ertragen lässt:
ICH LIEBE ES!

Was mein Opa dazu wohl gesagt hätte?
Mein Opa war ein Philosoph….und Milchmann!
© A.V